Auffang: Drei Bauernhöfe, drei Schicksalsorte
Am Morgen des 23. Oktober 1944 lesen Altöttings Zeitungsleser in der einzigen, nach der Gleichschaltung verbliebenen Lokalzeitung, die Meldung mit der Überschrift „Tiefflieger!“ „Feindliche Flieger terrorisieren die deutsche Zivilbevölkerung…Der Tieffliegerangriff erfolgt meist völlig unerwartet.“
Am gleichen Tag darf sich Sebastian Galland, Bauerssohn von Auffang, freuen, weil er nach schwerer Verwundung aus dem im Franziskushaus eingerichteten Lazarett entlassen werden soll. Sebastian Galland, ist zu diesem Zeitpunkt bereits 37 Jahre alt, ist als Grenadier der Infanterie Soldat der deutschen Wehrmacht.
Wie viele Soldaten ist er als Verwundeter in´s damalige Altöttinger Lazarett eingeliefert worden. Ein als glücklich wahrgenommer Umstand, weil der Bauernhof seiner Eltern praktisch in Sichtweite des Lazaretts vor den Toren der Stadt Altötting liegt.
Gesundheitlich so leidlich genesen und wieder hergestellt, setzt sich Sebastian Galland auf ein von der Familie schon bereit gestelltes Fahrrad und fährt in Richtung des bäuerlichen Anwesens nach Auffang, nach Hause.
Fast schon zu Hause angekommen, wird die noch am gleichen Tag in der Lokalzeitung veröffentlichte Warnung für ihn Wirklichkeit: Der Pilot eines über dem Forst plötzlich heranschießenden Tieffliegers nimmt den in soldatischer Uniform gekleideten Sebastian Galland ins Visier. Es gibt kein Entkommen, er hat keine Chance. Die Bombe schlägt auf und explodiert unmittelbar neben ihm. Im nur 50 Meter entfernten Bauernhaus zerbersten durch die Bomben-Splitter und die Druckwelle die Fensterscheiben.
Sebastian Galland, gerade aus dem Lazarett entlassen, dem Kriegsdienst durch Verwundung entkommen, wenige Meter vor dem schützenden Bauernhof, unbewaffnet, ist tödlich getroffen.
Heute: Das gemauerte und von Thujen umrahmte Marterl und ein naives Gemälde im Innern versuchen das so tragische Ereignis bildlich an die Wanderer und Spaziergänger in Erinnerung zu bringen. Weil es keine noch lebenden Zeitzeugen gibt, die uns mehr von diesem so tragisch zu Tode gekommenen Menschen erzählen könnten, bleibt uns als einziges Zeugnis das Sterbebildchen, auf dem eine zynisch-patriotisch und vermeintlich heldische Widmung zu lesen ist: „Sebastian Galland, Bauerssohn von Auffang, Teilnehmer am Feldzug gegen den Bolschewismus, Inhaber des Krimschildes, der Ostmedaille und des Verwundetenabzeichens in Bronze, gefallen am 23. Oktober 1944 durch feindl. Fliegerüberfall“.
Der Tod schwang weiter seine Sense im bäuerlichen Umfeld von Auffang. Das Schicksal traf auch die benachbarten Höfe mit voller Wucht. Alois Heuwieser, zukünftiger Bauer beim Bittlbauerhof (an der direkten Verlängerung der Stinglhamerstraße) fand als Funker im August 1943 im Alter von 19 Jahren den soldatischen Tod.
Und auch nur wenige Meter hinter der Hofstätte des Bittlbauernhofs am Waldrand, weist die auf einer Nagefluhstele verwitterte eingravierte Schrift, dass an dieser Stelle in den letzten Kriegstagen der 22 Jahre alte Altöttinger Obergefreite Gustl Emslander „verunglückt“ sei. Wie Sebastian Galland kurierte Gustl Emslander im Altöttinger Lazarett eine Kriegsverwundung aus und sollte in normalen Zeiten das elterliche Boden-/Teppich-Fachgeschäft am Ebererberg übernehmen. Die Umstände des „Unglücks“ sind heute nicht mehr nachvollziehbar. Die Todesursache war alles andere als ein Unglück. Gustl Emslander ist an dieser Stelle – möglicherweise ein Eifersuchtsdrama – mit einem Messer erstochen worden. Acht Tage vor der deutschen Kapitulation.
Nicht weit weg von dieser Stelle am Waldrand geht´s ein Stück durch den Wald zum Waitzenbauerhof. Auch dort schlug der Tod gleich mehrfach zu.
Drei Waitzenbauersöhne blieben – wie es so euphemistisch hieß – im Krieg: Josef im Alter von 34 Jahren, Johann im Alter von 30 Jahren und Otto im Alter von 26 Jahren.
Anmerkung des Verfassers dieser Zeilen:
Auf meinem Spaziergängen – mich begleitet dabei mein Hund – auf den Feldwegen zu Auffang komme ich fast täglich an all diesen „an-denkwürdigen“ Orten vorbei, an diesen Orten, die nicht nur für uns bekannte Einzelschicksale stehen.
Wir wissen, sie stehen auch für die bis dahin größte Menschheitskatastrophe. Die nationalsozialistische, deutsche Kriegsmaschinerie überzog ganz Europa mit Krieg, vernichtete das Leben von Millionen, wie von 13 Millionen russischen Soldaten und weiteren 14 Millionen russischen Zivilisten. In Polen waren es 300.000 Soldaten und 5,7 Millionen Zivilisten.
Mir stellt sich die Frage: Wie konnten Millionen Menschen wie Du und ich, leichtfertig den Pfad der jungen Weimarer Demokratie verlassen, zusehen wie politisch Andersdenkende in Konzentrationslager gesteckt, ermordet wurden oder wie sechs Millionen Juden umgebracht wurden, es zulassen, auf Befehl eines größenwahnsinnigen, ideologisch verirrten Diktators einen ganzen Kontinent und darüber hinaus zu überfallen und zu terrorisieren? 16 Millionen deutsche Männer schworen den soldatischen Eid auf die Person Adolf Hitler. Für fünf Millionen deutsche Soldaten war es das eigene Todesurteil. Halb Europa versank in Schutt und Asche, geschätzte 80 Millionen Menschen waren tot.
Wie und dass die Zahl von 80 Millionen Toten unsere Vorstellungskraft völlig überfordert, wird klar, wenn wir uns vor Augen führten, all diese Toten nebeneinander in einer einzigen Grabstätte zur Ruhe betten zu wollten. Wir müssten ein Grab schaufeln mit einer Ausdehnung von 80.000 Kilometern, ein Grabmahl ausreichend Platz für 80 Millionen Tote, ein Grab zweimal rundum den Erdball.
Obwohl uns die Erschütterungen, die Opfer des Zweiten Weltkriegs auf allen Seiten ja nur allzu bewußt geworden sind, obwohl die Vereinten Nationen ja genau aus dem Grund eingeführt worden sind, um Kriege zwischen den Völkern zu verhindern, sehen wir uns heute wieder, ob in der Ukraine, ob in Gaza, ob morgen an anderer Stelle, wie jegliches geistige, ideologische und militärische Zerstörungspotenzial, wie alles Verbrechen gegen die Menschlichkeit immer noch nicht weltweit geächtet wird.
Manchmal, wenn ich von meinen Spaziergängen heim von Auffang in Richtung zur Stinglhamerstraße gehen will, erinnere ich die Geschichte von den Brüdern beim „Waitzenbauer“. Denn hier an dieser Stelle fand der Franz, der ältere der drei im Weltkrieg verstorbenen Brüder vom „Waitzenbauern“, 1985 im Alter von 75 Jahren den Tod, als er beim Überqueren samt seinem Radl von einem Auto erfasst wurde.
Toni Dingl, beobachtender Spaziergänger zu Auffang
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